Gestern Sklave, heute Embryo
Am 22. September 1862, verkündete der US-Präsident, Abraham Lincoln, mitten im Sezessionskrieg die sogenannte Preliminary Emancipation Proclamation (vorläufige Emanzipations-Erklärung). In ihr kündigte Lincoln die Befreiung der Sklaven in allen Gebieten an, die bis zum Ende des Jahres 1862 nicht in die Union der Vereinigten Staaten zurückkehrten.
Die Emancipation Proclamation war ein widersprüchliches Dokument, eine Maßnahme, die die Konföderierten militärisch, politisch und diplomatisch schwächen sollte. Sie war aber auch der wahrscheinlich wichtigste Meilenstein auf dem Weg zur Abschaffung der Sklaverei in den Vereinigten Staaten von Amerika. Für die Lebensrechtsbewegung bietet die Emancipation Proclamation Gelegenheit zu einem vergleichenden Blick.
Viele Lebensrechtler kennen wahrscheinlich dieses Gefühl: Da nimmt mit der massenweisen, quasi-legal gestellten Abtreibung ungeborener Kinder die Verletzung der Menschenrechte ein unfassbares Ausmaß an; eigentlich ein gigantischer Skandal, noch dazu in einem Rechtsstaat, der sich wie die Bundesrepublik Deutschland zur Wahrung der Menschenrechte verpflichtet hat. Aber die Mehrheit der Gesellschaft weigert sich beharrlich, dies auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Die etablierten Medien ignorieren das Thema weitgehend. Und wenn es doch Erwähnung findet, dann sind es meist die Lebensrechtler, auf die als fundamentalistische Spinner mit dem Finger gezeigt wird. Der Unterschied zur Frage der Sklaverei könnte kaum größer sein.
Heute würde praktisch niemand mehr auf die Idee kommen, die Sklaverei verteidigen zu wollen – nicht einmal im Scherz. Es existiert de facto ein weltweiter Konsens darüber, dass kein Mensch einen anderen besitzen darf. Sklaverei gilt als absolut verwerflich, ähnlich wie Mord oder Folter. Geht man aber in der Geschichte zurück, sagen wir in die USA des Jahres 1860, so findet man dort eine Gesellschaft vor, in welcher die Debatte über die Sklaverei erstaunlich an unsere heutige Kontroverse über die Abtreibung erinnert.
Sklaverei war nicht nur völlig legal, sie fand auch die ausdrückliche Unterstützung des Obersten Gerichtshofes, der 1857 in seiner Entscheidung »Dred Scott vs. Sanford« festgestellt hatte, dass »Neger der Afrikanischen Rasse« sich nicht auf den Schutz der Verfassung berufen können. Demgegenüber betone die Verfassung, dass es »moralisch gesetzmäßig « sei, sie als Eigentum zu betrachten und als Sklaven zu halten. Auf allen Ebenen war die Staatsgewalt bei der Durchsetzung der Sklaverei aktiv. Das reichte von der Verfolgung und Rückführung entflohener Sklaven über die Strafverfolgung der Helfer der entflohenen Sklaven bis hin zu kommunalen Dienstleistungen wie der Bestrafung von Sklaven etwa durch Auspeitschen im Auftrag ihrer Eigentümer.
Die Unabhängigkeitserklärung von 1776 stellt explizit fest, dass alle Menschen »gleich geschaffen« sind und dass Leben und Freiheit zu ihren unveräußerlichen Rechten gehören. Ausformuliert wurden viele dieser Rechte dann in der Bill of Rights, der amerikanischen Verfassung.
Die Gründungsväter der Vereinigten Staaten – viele waren selbst Sklavenhalter – erkannten durchaus den Widerspruch zur Institution der Sklaverei, sahen aber keinen Weg, diesen aufzulösen. Sie zuckten die Achseln und gingen zur Tagesordnung über. Wenn ich das Wortgeklingel heutiger Politiker über die schwierigen Abwägungsprozesse beim »Schutz werdenden Lebens« höre, fühle ich mich immer wieder daran erinnert. Auch die Argumente, mit denen derart massive Menschenrechtsverletzungen in einem demokratischen Rechtsstaat damals wie heute begründet werden, ähneln sich sehr.
So wie heute der Embryo offenbar von einer Mehrheit nicht als vollwertiger Mensch gesehen wird, meinte der konföderierte Vizepräsident Alexander Stephens die »große Wahrheit« feststellen zu können, dass der »Neger« nicht gleichwertig zum weißen Menschen sei. So wie man heute oft hört, für ein Kind sei es besser, erst gar nicht in eine soziale oder anderweitige Notsituation geboren zu werden, so war damals die paternalistische Sicht weit verbreitet, dass „Neger“ in der Sklaverei besser aufgehoben seien als in Freiheit. Sie wären mit Obdach und allem Lebensnotwendigem versorgt, im Gegensatz zu armen Lohnarbeitern unkündbar und sowieso nicht in der Lage, in Freiheit für sich selbst zu sorgen.
Und so wie manche heutzutage meinen, dass die Mutter frei über den Embryo entscheiden dürfe, weil er nur ein Teil ihres Körpers sei, so selbstverständlich war für den Sklavenhalter der Sklave sein Eigentum, über den er verfügen konnte wie über seinen Ochsen oder sein Land. Angesichts dessen wundert es wenig, dass es Abolitionisten, also denjenigen, die das massive Unrecht der Sklaverei klar artikulierten und sich für dessen Abschaffung einsetzten, ähnlich erging wie den Lebensrechtlern heutzutage. Sie sahen einen großen Skandal, schrien ihn in die Welt hinaus – und die Welt hörte weg.
Sie galten als Radikale, welche die vielen politischen Kompromisse zur Sklaverei nicht akzeptieren wollten und den gesellschaftlichen Frieden störten.
Dem politischen Establishment waren sie vor allem lästig. Der Kampf zur Abschaffung der Sklaverei schien oft aussichtslos und dauerte viele Jahrzehnte. Aber am Ende gab die Geschichte den Gegnern der Sklaverei Recht.
Von Dr. rer. nat. Raymond Georg Snatzke